Skulptur SYMMETRIE von Gerhard Brandes, Hamburg

Drei steigende Drachen

Drei steigende Drachen
1978 // Bronze // Höhe (ohne Sockel) 210 cm // Breite 190 cm

DAS THEMA

Das Steigenlassen von Papierdrachen kam aus Ostasien nach Europa. Wenngleich sich im deutschen Sprachraum schon 1450 in Wien eine erste Erwähnung findet, bürgerte es sich als Kinderspiel erst seit dem späten 16. Jahrhundert vor allem von Holland ausgehend in Europa ein. Da man zum Steigenlassen von Drachen freies Feld braucht, war dieses Spiel eher ein Vergnügen der Landkinder als der Stadtkinder, wiewohl auch diese immer wieder Gelegenheit suchten und fanden. So wurde beispielsweise das «Auffeiern» (mißverständlich für das plattdeutsche «optieren» = hochheben, steigen lassen) der Drachen innerhalb der Stadt und der Wälle Hamburgs durch Polizeiverordnung vom 19. September 1834 verboten – vergeblich. wie sich leicht denken läßt, fordert der Herbstwind doch geradezu zum Drachsteigen­lassen auf. Auf dem Land dagegen boten die abgeernteten Felder ideale Mögli_chkeiten, und demjenigen unter der Dorfjugend galt die größte Bewunderung, dessen selbstgebauter Drache – gemessen an der gelegentlich kilometerlangen Schnur – am höchsten stand. Verständlich, daß die Verdrahtung der Luft durch Hoch­spannungsleitungen und der moderne Flugverkehr Komplikationen und neue Verbote heraufbeschworen haben. So ist das Drachensteigen nicht nur ein Kinderspiel, sondern zugleich auch ein Symbol für nahezu unumschränkte, vom Menschen aller­dings «im Griff» behaltene Freiheit – auf den sonst unzugänglichen Feldern wie in der Luft -. begleitet von der Sehnsucht.ebenfalls einmal in die Höhe zu steigen. Dem Drachensteigen plastische Gestalt zu geben, scheint auf den ersten Blick wenig naheliegend, hängt für gewöhnlich doch der Drache entfernt vom Menschen nur am dünnen Bindfaden. Andererseits reizt das Gegeneinander von erdenschweren Körpern und leichten, wind- und luftverwandten Flächen. Diesen Reiz in einer Plastik einzufan­gen, gelang Gerhard Brandes erstmals 1962 mit der Gruppe «Steigende Drachen» aus zwei Kindern im Alsterpark. Der Zuspruch, den diese Plastik in der Bevölkerung fand, verbunden mit dem beim Drachensteigen geweckten Assoziationen bewog die Hamburgische Landesbank, Gerhard Brandes mit einer neuerlichen Gestaltung dieses Themas zu beauftragen.

DIE TECHNIK

Wie viele seiner Arbeiten hat Gerhard Brandes auch diese Gruppe in dem alten Verfah­ren des Wachsausschmelzens gießen lassen. Dabei wird die Plastik im Atelier aus mehr oder weniger großen Wachsplatten aufgebaut. Diese gießt Brandes selbst auf Gipsplatten, meist in Formaten bis zu ca. 100 x 70 cm, denen er zuvor genau jenes _Relief gegeben hat, das später die Grundstruktur der Oberfläche seiner Plastik abge­ben soll. Die Stärke der Wachsplatten entspricht der Stärke der Bronzewandungen der fertigen Plastik. Grob vergleichbar mit dem Bekleiden einer Drahtfigur, werden die durch Erwärmung verformbar gemachten Wachsplatten über und um ein Kupfer­drahtgestell gehängt und gebogen und so zu jener Figur geformt, die später in Bronze gegossen werden soll. Dabei können beliebig Plattenteile herausgeschnitten und ein­gefügt werden. Damit die Wachsplattenfigur nicht zusammenbricht, müssen einzelne Teile an einem über die Plastik gespannten Rahmen aufgehängt werden. In gießbare Abschnitte zerlegt, die man in der Gießerei sorgsam mit einem Gips­Schamottegemisch ausfüllt und ummantelt, wird das Wachs durch Erhitzen heraus­geschmolzen und der so entstehende Hohlraum mit Bronze ausgegossen. Durch zusammenschweißen der einzelnen Teile erhält die Plastik wieder genau die Form, die das – beim Gießen verloren gegangene – Wachsmodell gehabt hat. Bei einem guten Guß ist auch die Oberflächenstruktur präzise erhalten geblieben.

DIE PLASTIK

Im Unterschied zur ersten Gruppe zum Thema «Steigende Drachen» von 1962 im Alsterpark ist bei dieser Variation des Themas eine kleinere Figur hinzugekommen, abgesehen davon, daß auch die beiden anderen Figuren nicht einfach wiederholt wurden, sondern in vielen Details neu gestaltet sind. Das gilt besonders auch für die Oberflächen, die in sich ruhiger geworden sind, so daß in Ihnen die belebenden «Falten» entschiedener hervortreten. Die drei Figuren bilden bei aller Durchbrechung, die die beschriebene Technik erlaubt, eine in sich geschlossene Gruppe mit klar zu umschreibendem Umriß, die von vorn fast wandartig wirkt, von der Seite dagegen sich als reich gestaffelt erweist. Die drei vom Wind erfaßten Drachen beginnen erst zu steigen, sind den Figuren also noch ganz nah und beschirmen die Gruppe zugleich. Von der Seite wird ihre Funktion für die pla­stische Gestaltung noch deutlicher. Stark in die Horizontale geneigt, geben sie der Gruppe aufrecht stehender Kinder noch oben einen Abschluß, verspannen die einzel­nen Figuren miteinander und umschließen zusammen mit den Figuren einen Raum, der damit ebenfalls seine plastische Funktion erhält. In der Verteilung der Massen lebt die Gruppe vom Gegensatz der in sich geschlosse­nen Körper zu den sie mit der Standplatte verbindenden, relativ kräftigen Beinen und den dünneren, himmelwärts strebenden Armen und «Bindfäden» einerseits, zu den Flächen der bereits fliegenden Drachen und dem einen noch im Arm gehaltenen ande­rerseits. Spannung verleiht der Figur auch das Nebeneinander der stabilen ständer­haften Beine und der leichten gezackten, fast frei schwingenden Drachenschwänze. Der aufgelösten, leichten, vielfältig durchbrochenen Form der Plastik, die in der größten Figur und dem Raum vor ihr dennoch ein Zentrum hat, entspricht die bewegte, überall mit lebhaftem Relief überzogene Oberfläche. Dieses Relief, das die Formen erstarrenden Wachses noch deutlich erkennen läßt, nimmt in der Differenzierung auf die unterschiedliche Stofflichkeit des Dargestellten durchaus Rücksicht. Auch wenn Realitätsnähe keineswegs angestrebt ist, unterscheidet sich das mit Falten überzoge­ne Relief der Bekleidung wie des Drachenpapiers von jenem der unbekleideten Körper­teile. Diese Sorgfalt in der Oberflächengestaltung gilt für alle Ansichten, denn auch wenn die Frontalansicht eindeutig die wichtigste ist, erfüllt die Gruppe alle Anforderun­gen, die man an eine ganz zu umgehende und somit von allen Seiten zu betrachtende Plastik stellt.

Professor Dr. Gerhard Kaufmann Direktor des Altonaer Museums